»Ost-West-Diskussionsfomm« Nr. 8/9
Oktober 1989
c) Leipzig
Leipziger Chronik (Teii 3)
Unter dem Titel »Die Mucke« legten die Leipziger
Gruppen Arbeitskreis Menschenrechte und Arbeits-
kreis Gerechtigkeit im Marz diesen Jahres eine im
»Ost-West-Diskussionsforum« verbffentlichte Chro-
nik vor, die iiber ein Jahr hinweg die wichtigsten Sta-
tionen der Leipziger Biirgerrechtsbewegung ver-
folgte. Daran anschlieBend und ebenfalls chronikartig
sollen hier die Ereignisse seither erfaflt werden.
23.2.
Um gegen die Vorgange bei der so-
genannten »Prager Woche« im Januar
1989 und gegen die sich daraus erge-
benden politischen Gerichtsprozesse
zu protestieren, schreiben 19 Frie-
dens- und Menschenrechtsgruppen
der DDR, darunter einige aus Leipzig,
einen Offenen Brief an Regierungsver-
treterderCSSR.
24.-26. 2.
Auf dem Treffen »Frieden konkret
VII« in Greifswald wird auf Antrag der
Umweltbibliothek Berlin, des Arbeits-
kreises Gerechtigkeit Leipzig, der In-
itiative Frieden und Menschenrechte
und der Arbeitsgruppe Menschen-
rechte Leipzig mit knapper Mehrheit
eine Protestresolution angenommen,
die zu den Vorgangen in der CSSR
Stellung nimmt.
28.2.
Als Auftakt zur konkreten Vorberei-
tung der Kontrolle der Kommunalwah-
len am 7. 5. '89 veranstalten der Ar-
beitskreis Gerechtigkeit, die Arbeits-
gruppe Menschenrechte und die In-
itiativgruppe Leben einen Abend in
der Leipziger Markuskirchgemeinde.
12.3.
Eroffnung der Leipziger Friihjahrs-
messe. Zwanzig Personen bilden ei-
nen Fahrradkorso von der Nikolaikir-
che zum Messegelande, wo sich zu
diesem Zeitpunkt Politiker aus Ost
und West aufhielten. Mit dieser Ak-
tion sollte fiir die Verwirklichung indi-
vidueller Menschenrechte in der DDR
demonstriert werden.
13. 3. Messemontag.
Im AnschluB an das vom Rektor des
Theolog. Seminars, Prof. Kuhn, gehal-
tene Friedensgebet, formierten sich
etwa 600 der 1 000 Besucher dieser
Veranstaltung zu einem Schweige-
marsch durch die Leipziger Innen-
stadt. Bei den Demonstranten han-
delte es sich grofltenteils um Ausrei-
sewillige. Dieser Schweigemarsch
war die erste groBere Demonstration
in der DDR, die nicht von den Men-
schenrechtsgruppen, sondern von
Antragstellern organisiert worden ist.
Bereits im Vorfeld wurden etwa 300
Antragsteller durch die zustandigen
Behorden belehrt, an keinerlei Aktio-
nen wahrend der Leipziger Messe teil-
zunehmen. Wahrend der Demonstra-
tion wurden 12 Personen festgenom-
men, nach zwei bis drei Tagen aber
wieder aus der Untersuchungshaft
entlassen.
15.3.
Gemeinsam mit anderen kirchlichen
Gruppierungen veroffentlicht der Ar-
beitskreis Gerechtigkeit aus AnlaB der
Schiisse an der innerdeutschen
Grenze einen Offenen Brief an die Be-
volkerung der DDR.
19.3.
DDR-weiter Aktionstag fiir die in
der CSSR politisch und religios Ver-
folgten. Von 17-24 Uhr findet in der
Leipziger Markuskirchgemeinde eine
Veranstaltung der Leipziger Gruppen
zu diesem Thema statt.
Marz
Eine Gemeindebibliothek zur Pro-
blematik Gerechtigkeit, Frieden und
Umweltbewahrung offnet in der Mar-
kuskirchgemeinde. Damit existiert ne-
ben der Oko-Bibliothek der Arbeits-
gruppe Umweltschutz eine zweite un-
abhangige Bibliothek in Leipzig.
1.4.
In der Heilandsgemeinde versam-
meln sich 400 Personen im Rahmen ei-
nes »Tages zur Volksbildung in der
DDR«. Ein Brief an den DC. Padagogi-
schen KongreB wird verfaBt. In ihm
werden die Erwartungen an Verande-
rungen in der Volksbildung formuliert.
3.4.
Uber mit dem Braunkohleabbau zu-
sammenhangende Umweltprobleme
veranstaltet die Arbeitsgruppe Um-
weltschutz einen Abend in der Refor-
mierten Kirche. 250 Personen kamen,
um den Diavortrag »Bilder einer Reise
zwischen Tagebau und Kraftwerken«
des Arbeitskreises Frieden und Urn-
welt Hoyerswerda zu horen.
10.4.
Leipzigs kirchliche Basisgruppen
diirfen das montagliche Friedensge-
bet wieder mitgestalten. Zum ersten
Friedensgebet der Gruppen, das der
Arbeitskreis Gerechtigkeit hielt, ka-
men 900 Personen.
17.4.
Das Friedensgebet wird von der AG
Menschenrechte gestaltet. 800 Perso-
nen nahmen teil.
18.4.
Mitarbeiter des AK Gerechtigkeit
und der Umweltgruppe Borna geben
ein fiinfseitiges Informationspapier
iiber den geplanten und bis dahin in
der Bevolkerung unbekannten Bau ei-
nes Kernkraftwerkes im Raum Dahlen
heraus.
24.4.
Die Nikolaikirchgemeinde halt vor
700 Personen das Friedensgebet. Pfar-
rer Fiihrer verliest in ihm auch den Be-
schlufl der Synode der Ev.-luth. Lan-
deskirche Sachsen zur Kommunal-
wahl.
26.4.
Jahrestag der Reaktorkatastrophe
von Tschernobyl. Kernkraftgegner
aus der gesamten DDR wollen in Sten-
dal auf die Gefahren der friedlichen
Nutzung von Atomkraft aufmerksam
machen. Der Mitarbeiter des Arbeits-
kreises Gerechtigkeit Leipzig, Rainer
Muller, wird vorlaufig festgenommen.
1.5.
Bei dem Verlassen eines Wohnhau-
ses in Borna wird der Mitarbeiter des
AK Gerechtigkeit, Rainer Muller, von
der ihm auflauernden Polizei zusam-
mengeschlagen und zugefiihrt. Uwe
Der und Thorsten Beinhoff nehmen an
der offiziellen Maidemonstration teil.
Es gelingt ihnen, -40 Minuten mit ih-
rem 2x1 Meter groBen Transparent
„Wahrheit ist kein Monopol - Offen-
sein fiir Aiternativen" mitzulaufen.
Zwanzig Meter vor der Tribune wer-
den sie entdeckt und zugefiihrt. Frank
Sellentin und Uwe Schwabe versu-
chen Polizisten zu fotografieren, die
Personalausweise kontrollieren. Auch
sie werden zugefiihrt. (Alle vier sind
Mitarbeiter der Initiativgruppe Le-
ben). 17 Uhr Ziehen 280 Antragsteller
unbehelligt durch die Innenstadt.
Anfang Mai
Per Flugblatt ruft eine »Initiative zur
demokratischen Erneuerung der Ge-
sellschaft« zu einer Versammlung der
Nichtwahler fiir den 7. 5., 18 Uhr, auf
den Leipziger Marktplatz auf.
4.-7.5.
Vor der anstehenden Kommunal-
wahl und der Demonstration gegen
deren undemokratisches System wer-
den in Leipzig 56 Aktivisten zum Teil
mehrfach vorgeladen und zugefiihrt.
Obwohl beide Gruppen nichts mit der
Vorbereitung der Demonstration zu
tun haben, werden nahezu alle Mit-
glieder des Arbeitskreises Gerechtig-
keit und der Arbeitsgruppe Men-
schenrechte zugefiihrt. Besonders
scharfer Bewachung erfreute sich der
AK Gerechtigkeit. So wurden der Mit-
arbeiter Thomas Rudolph und der
Rechtsanwalt Wolfgang Schnur auf
dem Weg von Leipzig nach Erfurt von
mehreren Autos der Staatssicherheit
verfolgt. Dank der Fahrkunst von
14
I.- DDR: Leipzig
Rechtsanwalt Schnur verlor die
Staatssicherheit das zu verfolgende
Auto in den engen StraBen der Erfur-
ter Innenstadt. Den Leipziger Biirger-
rechtlern wird ein Politbiirobeschlufi
zur Unterbindung der Demonstration
bekannt.
7.5.
Bernd Oehler (AK Gerechtigkeit)
und Frank Richter (AG Menschen-
rechte) werden zugefiihrt. Beide hat-
ten nicht die Absicht, an der Demon-
stration teilzunehmen. 1 8 Uhr versam-
meln sich 1 500 Demonstranten auf
dem Leipziger Marktplatz. Es formie-
ren sich 100-1 000 Mann starke De-
monstrationszuge. Die Pohzei schrei-
tet ein, mindestens 120 Personen wer-
den festgenommen.
8.5.
Im AnschluB an das Friedensgebet
formiert sich ein 550 Mann starker De-
monstrationszug gegen die von Leip-
ziger Gruppen aufgedeckten Wahlfal-
schungen. Sechzehn Personen wer-
den vorlaufig festgenommen. Der
Trend, daB sich an Demonstrationen
immer mehr Personen ohne Ausreise-
antrag beteiligen, setzte sich fort.
15.5.
Obwohl kein Friedensgebet abge-
halten wurde, fanden sich etwa 150
Antragsteller vor der Nikolaikirche
ein. Sie bildeten einen Demonstra-
tionszug durch die Innenstadt. Dabei
wurden von den Sicherheitskraften
die Personalien der Demonstranten
aufgenommen.
22.5.
Nach dem Friedensgebet bildeten
etwa 350 Teilnehmer einen Demon-
strationszug, doch die Innenstadt war
bereits eine Stunde zuvor durch Poli-
zeiketten abgeriegelt worden. Bei
dem Versuch, aus dem Nikolaikirchhof
herauszukommen, wurden die De-
monstranten in der RitterstraBe einge-
kesselt. Gegen die Demonstranten
werden Schlagstocke eingesetzt,
Hundefiihrer stehen zum Einsatz be-
reit. Eine Demonstrantin wird ver-
letzt. Die Eingekesselten rufen in
Sprechchoren: „ Wir wolJen raus!"
Ein junger Mann wird von den Si-
cherheitskraften zum Radelsfiihrer er-
klart und inhaftiert. Er sieht seinem
Prozefi entgegen.
Ab dem 22. 5.
beginnt eine flachendeckende
Uberwachung der Leipziger Gruppen.
Damit sollen die Organisatoren des 2.
Pleifiemarschs eingeschiichtert wer-
den. Anhand der Verhore wird ersicht-
Uch, daB die Staatssicherheit im Ar-
beitskreis Gerechtigkeit und der Ar-
beitsgruppe Menschenrechte die Or-
ganisatoren fur den Pleiflemarsch und
das fur den 10. Juni geplante unab-
hangige StraBenmusikfestival sieht.
Einige Gruppenmitglieder werden
zum Teil mehrfach vorgeladen oder
zugefiihrt.
So z.B . Rainer Muller, Katrin Walther
und Thomas Rudolph vom Arbeits-
kreis Gerechtigkeit, Michaela Ziegs,
Frank "Sellentin, Michael Arnold und
Uwe Schwabe von der Initiativgruppe
Leben, Jochen LaBig (Musiker der
Gruppe » Solaris «) und Andreas Ra-
dicke, der Hausmeister der Lukas-
kirchgemeinde.
29.5.
Noch wahrend die Teilnehmer des
Friedensgebets die Kirche verlassen,
riicken bereits lose Reihen von Polizi-
sten auf den Nikolaikirchhof vor und
fordern die Gottesdienstbesucher auf,
sofort nach Hause zu gehen. Ohne er-
sichtlichen Grand wird Udo Hartmann
(Initiativgruppe Leben) von der Kirch-
tiir weg verhaftet. Pfarrer Fiihrer
kommt auf den Nikolaikirchhof und
versucht zu vermitteln. Die Gottes-
dienstbesucher zerstreuen sich. Es
kommt aber dennoch in der Nahe der
Kirche sowie in Seitenstrafien zu 15
weiteren Zufuhrungen. Betroffen sind
u.a. Carola Bornschlegel (Initiativ-
gruppe Leben) und Rainer Muller vom
AK Gerechtigkeit.
Spater winkt Rainer Muller aus ei-
nem offenen Fenster des Polizeige-
baudes in der DimitroffstraBe. Darauf-
hin wird er unter Schlagen und Fufi-
tritten iiber einen Tisch gezogen und
zur Tur geschleift. Im Flur des Polizei-
gebaudes wird er von vier Personen,
die sich bei seiner Festnahme eine
Stunde zuvor als Kriminalpolizei aus-
gewiesen haben, brutal zusammenge-
schlagen.
Nach seiner Entlassung sucht Rai-
ner Muller einen Arzt auf und lafit sich
seine Verletzungen bescheinigen.
Spater versucht er, Anzeige wegen
MiBhandlung zu erstatten, doch er
wird von den Behorden abgewiesen.
Aufgrund der Vorfalle nach dem Got-
tesdienst intervenierte der sachsische
Landesbischof Dr. Hempel bei den
verantwortlichen staatlichen Stellen.
- f.w.s. -
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